Brasilia - Oscar Niemeyers Hauptstadt-Utopie

Tag 1 in Brasilia

Nach vier Stunden Flug kommen wir nachts um 20 Uhr in Brasilia an. Wieder wählten wir die Fluglinie AZUL. Leider gibt es von AZUL keinen Direktflug von Porto Alegre nach Brasilia und wir mussten eine Zwischenlandung in Sao Paulo in Kauf nehmen. Ich bevorzuge normalerweise Direktflüge. Es kommt immer wieder vor, dass Gepäckstücke bei Gabelflügen verlorengehen. Was normalerweise schon schlimm genug ist. Für unsere Arbeit  wäre der Verlust von Material zusätzlich fatal.

Zum Glück kommen unsere beiden Koffer relativ schnell auf dem Laufband an. Die Temperatur in Brasilia ist mit 22 Grad sehr angenehm. Der Flug war auch dieses Mal problemlos und komfortabel. Dickes Lob an die Piloten und Bordcrew. Linhas Aereas Azul können wir für Inlandsflüge in Brasilien ruhigen Gewissens empfehlen. Bisher hat alles reibungslos geklappt.

 

Vanessa, die Tochter unserer Vermieterin Vania, holt uns am Flughafen ab. Wir haben dieses Mal ein privates Apartment gebucht. Über das internationale Internetportal "Airbnb". Das ist das erste Mal und wir lassen uns überraschen. In Brasilia empfiehlt es sich, Wohnungen zu mieten, denn die Hotels hier haben gesalzene Preise. Dabei ist meistens noch nicht mal ein kostenloser Internetzugang inbegriffen. Auch haben die meisten Hotelzimmer Teppichboden, was mir ein Rätsel ist bei dieser Hitze. Zum Zeitpunkt unseres Aufenthalts war zudem fast alles ausgebucht. Merkwürdig. Aber in die Hauptstadt Brasilia kommen natürlich viele Geschäftsleute und Politiker.

 

Bei unserer Ankunft ist es schon dunkel, weshalb wir wenig von der Stadt sehen können. Der erste Eindruck der gut beleuchteten weitläufigen doppel- und dreispurigen Strassen und der Gebäude ist schonmal angenehm. Der Verkehr fließt reibungslos. Unser Apartment liegt knapp 30 km von der Stadtmitte entfernt in Aguas Claras, einem neuen Stadtviertel mit modernen Wolkenkratzern. Klein- Manhattan auf brasiliansch. Alle Gebäude streben dem Himmel entgegen. Die Entfernung vom Zentrum ist zwar für unsere Arbeit etwas unpraktisch, aber wir konnten sonst nichts adequates finden. Wir werden im 18. Stock wohnen! Nach knapp 20 Minuten sind wir da und Vanessa zeigt uns die Wohnung. Sie ist  kleiner als erwartet, ein Mini-Apartment, aber für unsere Zwecke ausreichend. Es gibt Internet, eine kleine Küche und Fernsehecke und ein Schlafzimmer mit Duschbad. Der Blick auf die nächtlich beleuchtete Stadt aus dem 18. Stock hat schon was.

Die Metrostation, Supermärkte und Einkaufszentrum liegen in unmittelbarer Nachbarschaft. Und morgen werfen wir einen ersten Blick auf Brasilia, die futuristische Hauptstadt Brasiliens.

 

Brasilia ist administrativ gesehen eine Verwaltungsregion, genannt Distrito Federal. 1960 löste sie die bisherige Hauptstadt Rio de Janeiro ab. Die Politikerelite samt Familien mussten (sehr zu ihrem Unwillen) in die damals recht unwirtliche Gegend umsiedeln. Geplant war eine neue Hauptstadt schon lange, genaugenommen gab es schon Pläne seit dem 18. Jahrhundert. Doch erst mit Juscelino Kubitschek, einem Modernisierer und Visionär, wurden die Pläne konkret. Ein neues modernes und gerechteres Brasilien schwebte ihm vor. Am 21. April 1960 weihte Kubitschek in Funktion des Staatspräsidenten die neue Kapitale als "Stadt der Hoffnung" ein. Oscar Niemeyer wurde zum Chef der Architekturplanung ernannt und Lucio Costa zum Koordinator der Stadtplanung. Ein komplett neues Architekturkonzept und die Moderne nahmen Einzug in Brasilien und begeisterten die Welt. Weite Strassen, helle Fassaden, geschwungene Formen. Aufbruchstimmung in Beton gegossen und geformt von sanften Linien und der Leichtigkeit Oscar Niemeyers. Aufgrund ihrer architektonischen Besonderheit gehört die Stadt seit 1987 zm UNESCO Weltkulturerbe.

 

Wir sind schon sehr gespannt auf Oscar Niemeyers Lebenswerk, von dem er 2001 behauptete: "Dieses Experiment war nicht erfolgreich".

 

Warum, werden wir versuchen, herauszufinden.

 

 

"Monumental" - grandiose Bauwerke, Ostblockflair und weibliche Kurven

Unser zweiter Tag in Brasilia beginnt mit strahlendem Sonnenschein und babyblauerm Himmel. Es ist heiss und sehr trocken. Ein leichter Wind macht die Hitze erträglich, auch wenn die Luftfeuchtigkeit bei weniger als 25 Prozent liegt. Mit der Metro fahren wir in knapp einer halben Stunden mitten hinein ins Zentrum der Hauptstadt. Die Bahn kostet nur 3 Real (knapp 1 Euro) pro Fahrt und Person. Die Wagons sind brechend voll. Ein Gemisch aus allen Ethnien Brasiliens ist hier zu sehen. Schokobraune, hellhäutige, dunkelhäutige Gesichter, viele der Menschen hier haben indianisches Blut. Ein bunter Mix, das ist das faszinierende an Brasilien. Die Metrobahn ist klimatisiert und die Ansagen zweisprachig, zuerst auf Portugiesisch, dann auf Englisch (hoppla, das ist das erste Mal!). Sonst gibt es in Brasilien kaum englischsprachige Informationen. Die Weltmeisterschaft wirft also doch ihre Schatten voraus. Das WM Stadion in Brasilia ist eines der wenigen im Land, das bereits fertiggestellt ist. Wir werden hoffentlich später einen Blick darauf und hinein werfen können...

 

Die Endstation liegt nicht weit entfernt vom Nationalmuseum, der Kathedrale und der Esplanada dos Ministerios. Fast alle wichtigen Bauwerke Brasilias sind hier zu Fuss zu erreichen. Alles ist flach, weit und gross. Platzmangel ist hier jedenfalls kein Thema. Das Museu Nacional sieht aus wie ein halbierter Planet, die Catedral Metropolitana, das erste Bauwerk Niemeyers ist ein Lichtspiel aus geschwungenen weissen Stahlgräten und gigantischen Glasfenstern. Licht, Kurven und  feminine Formen prägen Oscar Niemeyers Stil.  Die  dagegen langweilig wirkenden Einheitsblöcke der Staatsministerien reihen sich rechts und links der Esplanda dos Ministerios aneinander. Sie sehen aus wie die Plattenbauten der ehemaligen Ostblockländer. Polens damaliger Präsident Lech Walesa soll bei einem Besuch ausgerufen haben: "Hier sieht es ja aus wie in Warschau!".  Nur dass hier die brasilianische Sonne alles in gleissendes Licht taucht, füge ich hinzu. Man sieht Bürokraten in Anzug und Kravatte ein- und ausgehen, vereinzelte ausländische Touristen, auch Manifestanten, die Demoblätter verteilen. Am Ende der Strasse steht das futuristische Erscheinungsbild des Congresso Nacional. Der Nationalpalast wird zu beiden Seiten von riesigen Schalen gesäumt, eine mit der Öffnung nach unten, die andere nach oben geöffnet. Es sieht aus als seien gerade eben zwei Ufos in der weiten trockenen Cerrado Savanne gelandet. Die Fahnen Brasiliens und der Mercosurländer flattern im Wind. Gleich dahinter liegt die  Praca dos Tres Poderes (Platz der Drei Staatsgewalten, heisst Oberstes Gericht, Kongress, Parlament).

Direkt vor dem Nationakongress dauercampen Demonstranten auf einer ausgetrockneten Rasenfläche, umgeben von zahlreichen Spruchbändern. Jeden Tag protestieren meist von Gewerkschaften organisierte Gruppierungen vor den unterschiedlichen Ministerien. Ob das den Beamten in ihren klimatisierten und jalousienverdunkelten Büros grosse Kopfschmerzen bereitet, lässt sich nur spekulieren.

 

Lange Zeit galt Brasilia als menschenfeindliches Projekt, ein theoretisches Gebilde, auf dem Reissbrett entworfen, aber nicht zum Leben geschaffen. Die strafversetzten Minister flüchteten am Wochenende in ihre Heimatstädte Rio de Janeiro und Sao Paulo. Nach Brasilia kam man nur zum Arbeiten. Heute scheint sich die Stadt vom Vorurteil und Image der Ungastlichkeit langsam zu befreien. Das Kulturangebot hat sich gemausert und wer heute einen Blick in die monatliche Veranstaltungsagenda wirft, findet dort alle grossen Namen aus Kunst und Kultur vertreten. Die Einwohner verfügen heute über ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als im restlichen Land und die Stadt bietet im Vergleich zu anderen brasilianischen Städten einen relativ hohen Lebensstandard. Das gute Geld geben die Einwohner Brasilias in glitzernden Shopping-Centern mit internationalen Marken aus. Obwohl die Arbeitslosenquote gleich null ist (wovon europäische Krisenländer nur träumen können), steigt die Kriminalität. Nur wenige Meter vor den Türen der schicken Konsumtempel rund um die Rodoviaria leben Strassenkinder und Drogenabhängige in inhumanen Verhältnissen. Auch das gibt es in Brasilia wie in allen brasilianischen Städten.

Monumental-Achse - Blick auf die Esplanada dos Minsterios - (c) Lou Avers
Monumental-Achse - Blick auf die Esplanada dos Minsterios - (c) Lou Avers

Viel Verkehr, weite Wege und Strassen im Quadrat...

Wer in Brasilia zu Fuss unterwegs ist, braucht gute Schuhe und einen Hut. Alles ist weit voneinander entfernt und in den Mittagesstunden brennt die Sonne erbarmungslos auf die rotbraune Erde. Regen erlöst den ausgetrockneten Boden nur im September. Ansonsten fällt hier das ganze Jahr kein Wassertropfen vom Himmel. Dank der Verfügbarkeit von Gisele und Wellington des regionalen Tourismussekretariats können wir etwas Schuhsolen sparen und bekommen die Möglichkeit, die wichtigsten Monumente zu den unterschiedlichsten Tageszeiten zu fotografieren. Das erspart uns enorm viel Zeit, auch wenn der Abendverkehr zu den Stoßzeiten viel Geduld erfordert. Von den mittlerweile 200.000 Einwohnern der Kernstadt scheint heutzutage jeder ein (meist neues) Auto zu besitzen.

Auch wir werden einmal mehr zum Objekt einer Gegenreportage, Gisele berichtet hier über unsere Arbeit in Brasilia im Onlineportal des Tourismusbüros:

http://www.setur.df.gov.br/noticias/item/2969-ag%C3%AAncia-alem%C3%A3-divulga-bras%C3%ADlia-como-destino-para-a-copa.html

 

Es gibt viel zu sehen in Brasilia. Und die Stadt wächst unaufhörlich in die Breite und in den Himmel. Immer neue Wolkenkratzer schiessen in den Vororten wie Pilze aus dem Boden. Etwas Erfrischung im Betonland bietet ein Stausee, der in Lago Sul und Lago Norte eingeteilt ist. Die Ufer verbindet die elegante  Bogen-Brücke Juscelino Kubitschek. Rund um den Lagao stehen die besten Hotels und nobleren Villen der Stadt.

Auch die Residenz der Staatspräsidenten, der Palacio da Alvorada, ist hier zwischen den Nord- und Südsee auf einer grünen Halbinsel platziert. Vor dem Palast und heutigen Wohnsitz der Präsidentin Dilma patroulliert die Militärgarde, herausgeputzt gerade wie vor dem englischen Buckinghampalast. Fotografieren darf man hier nur mit Genehmigung. Auf die müssen wir noch ein paar Tage warten.

 

Ringsum die monumentale Achse des Plano Piloto reihen sich die Gebäude der politischen Basis:  die Ministerien säumen die Esplanada dos Ministerios bis zum Platz der Drei Staatsgewalten (Praca dos Tres Poderes), wo der Nationalkongress (Congresso National), das Parlament (Palacio do Planalto) und  das Oberste Gericht ( Palacio da Justicia) in enger Nachbarschaft stehen. Dort befindet sich auch eine Gedenkmauer  des Stadtgründers Juscelino Kubitschek und andere wichtige Sehenswürdigkeiten. Am anderen Ende der Esplanada liegen die Kathedrale und das Nationalmuseum.

 



Oscar Niemeyer - der architektonische Vater Brasilias

 

„Die Architektur besteht aus Traum, Phantasie, Kurven und leeren Räumen.“

 Oscar Niemeyer

 

Oscar Niemeyer starb am 05. Dezember 2012 im Alter von 105 Jahren. Noch kurz vor seinem Tod kam er zur Einweihung seines letzten Projektes in Brasilia, dem Digitalen Fernsehturm (Torre TV Digital). Unverkennbar auch hier seine Handschrift. Der Turm sieht von weitem aus wie eine riesige Betonblume, inmitten des Nichts. "Flor do Cerrado" (Blume der Savanne) wird er deshab genannt. Zwei semisphärische Halbkugeln die aussehen wie Unbekannte Flugobjekte aus Enterprise bilden die "Blätter". Dort unter Fiberglasdächern sind zwei Panorama-Cafés vorgesehen. Auf der Aussichtsplattform in 110 Metern Höhe schaut man aus riesigen Bullaugen im 360 Grad Panorama auf die Stadt Brasilia. Der Turm selbst ist 182 Meter hoch.

 

Niemeyer hat die Welt verlassen doch seine Werke machten ihn unsterblich. Er gilt als der Wegbereiter der modernen brasilianischen Architektur und inspirierte viele moderne Architekten nach ihm. Er hinterlässt der Welt mehr als 600 Werke und ist damit einer der aktivsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Sein Gesamtwerk wurde in diesem Jahr zum Weltdokumentenerbe erklärt. Er hinterliess viele Gebäude auf der ganzen Welt, doch Brasilia ist ganz und gar seine Hauptstadt-Utopie. Zusammen mit dem Städteplaner und langjährigen Kollegen Lucio Costa projezierte er futuristisch wirkende schlichtschöne Gebäude mitten in die Einöde des Cerrado und schuf das außergewöhnliche Gesamtbild Brasilias. Er wird gerne der Meister der Kurven genannt, weil er alles in sanfte weibliche Linien verpackt. Seine Werke wirken nie altmodisch und sind klassisch zeitlos. Sicherlich kann man sich über Geschmack streiten und viele Kritiker bemängelten das "kalte" Erscheinungsbild Brasilias. Ich teile diese Meinung nicht. Ich finde, seine lichtdurchfluteten strahlenden und abgerundeten Projekte sehr schön anzusehen. Sie passen hierher und machen Brasilia zu einem einzigartigen Ort.


Eine Niemeyer Statue wird man in Brasilia vergeblich suchen. Womöglich wollte der Meister selbst keine solche Auszeichnung. Er bezeichnete das Brasilia-Konzept einst als "nicht erfolgreich". Die Stadt sollte Hoffnung ausstrahlen für eine neue Zukunft und gerechtere Gesellschaft in Brasilien. Niemeyer, selbst überzeugter Kommunist, war wohl desillusioniert über den gesellschaftlichen und politischen Verlauf seines Landes. Wegen seiner Werke kommen heute tausende Touristen aus aller Welt nach Brasilia und staunen über die Zeitlosigkeit der Gebäude.

 

 

Hier protestiert Acampamento Uniao schon seit Wochen - (c) Lou Avers
Hier protestiert Acampamento Uniao schon seit Wochen - (c) Lou Avers

 

Stichwort Volksproteste

Trotz all der architektonischen Attraktionen in Brasilia haben wir die politischen Manifestationen nicht vergessen. Täglich berichten die Nachrichten über Proteste in Sao Paulo oder Rio de Janeiro. Und auch hier in Brasilia gibt es jeden Tag diverse Demonstrationen. Auf einer Rasenfläche genau vor dem Nationalkongress stehen hunderte kleiner Campingzelte umringt von bunten Spruchbändern. Hier haben sich diverse Gruppierungen unter dem Namen Acampamento Uniao Brasilia zusammengefunden.  Bereits seit einem Monat dauercampen sie gegen Korruption, Straffreiheit, Geldverschwendung, Investitionen in ein besseres Bildungs- und Gesundheitswesen und gegen das aktuelle politische System. Wir sprechen mit einigen der Wortführer und lassen uns ihre Forderungen erklären. "Wir bleiben hier solange, bis die Regierung tätig wird und unsere Forderungen anhört." Niemand hier glaubt mehr an Dilma und ihre Partei. Die PT, die kurioserweise einst den Menschen das politische Bewusstsein nahebrachte und das Protestieren lehrte, wird nun mit ihren eigenen Waffen bekämpft. Die Umfragewerte der Regierung sind auf dem Tiefpunkt. Und es geht weiter, wie uns die Mitglieder des Acampamento Uniao mitteilen. Sie vertreten keine Parteien oder sonstige Vereinigungen. Hier findet sich das Volk zusammen, um gemeinsam gegen die sozialen und politischen Mißstände zu kämpfen.  Für das Jahr der Weltmeisterschaft 2014 will man alle Kräfte mobilisieren. Und auch für den Unabhängigkeitstag am 7. Setember sind Grossdemonstrationen geplant. "Es kannn nicht sein, dass Millionen in ein Stadion gesteckt werden und gleichzeitig die Menschen auf den Krankenhausgängen sterben, weil das Gesundheitssystem am Boden ist. Vom Bildungswesen ganz zu schweigen", meint eine der Vertreterinnen. "Wir haben genug von der Kungelei und Ausbeutung mit Steuergeldern, die irgendwo in dunklen Kanälen verschwinden", meint eine andere der Frauen im Bund. Man organisiert sich über die sozialen Netzwerke und stellt die aktuellsten Nachrichten selbst ins Netz. "Die brasilianischen Medien berichten nicht über uns, sie wollen uns keinen Sprachraum bieten. Doch wir brauchen sie nicht mehr. Heute produzieren wir unsere Nachrichten selber im Internet" meint ein junger Sprecher des Acampamento Uniao, der extra aus Minas Gerais angereist ist und schon seit Wochen der nächtlichen Kälte und Tageshitze trotzt. Diesmal wollen sie nicht so einfach aufgeben. Die WM wird die Weltbühne für die Darstellung aller Probleme im Land werden. Wir sind gespannt, wie die Regierung darauf regiert.

 

 


So schön ist Brasilia in der Abenddämmerung


 

11.08.2013 - Ein Sonntag in Brasilia

Wir nutzen heute den ruhigeren Sonntag, um mit der Metro in die Stadt zu fahren. Obwohl wir schon recht früh unterwegs sind, sind doch keine Sitzplätze frei. Also heisst es wieder 35 Minuten stehend Metro fahren. Die Stadtmitte dagegen ist heute wie leergefegt. Nur Touristen sind unterwegs. Die Politiker und Staatsbeamten verschwinden alle schon am Freitag nachmittag. Wir machen einige Morgenaufnahmen von der Kathedrale, dem Itamaraty Palast und dem Pantheon. Um von der Metrostation zur Esplanada dos Ministerios zu kommen, müssen wir den Busbahnhof durchqueren. Hier ist ein tägliches Menschengewimmel und man muss gehörig auf seine Taschen aufpassen. Jeder, den wir bisher trafen, warnte uns vor den Abendstunden an der Rodoviaria. Hier leben ganze Gruppen von Drogenabhängigen auf der Strasse. Um an Geld für ihren Stoff zu kommen, überfallen sie regelmäßig Passanten. Ich spreche einen Polizeibeamten darauf an und die Antwort lautete: "Ja, hier muss man abends sehr aufpassen. Es ist nicht sicher. Immer wieder kommt es zu Übergriffen. Jedenfalls viel Glück". Ich bin verblüfft, denn es will mir nicht in den Kopf, wie eine Stadt, in der den ganzen Tag Polizisten patroullieren, nicht mit einer Handvoll "Drogados" fertig wird. Dieses Problem wäre so einfach zu lösen. Aber es fehlt wohl eher am Willen und so nimmt man lieber den schlechten Ruf der Stadt in Kauf statt zu handeln.

 

Als wir zwei Minuten nach 19 Uhr an die Metrostation kommen, unser Fotomaterial fest umklammert und immer umherschauend, finden wir diese geschlossen vor. Obwohl der befragte Polizist meinte, bis 21 Uhr wäre die Metro offen, stehen wir jetzt staunend vor verriegelten Toren. Ich fasse es nicht. Busse sind auch keine Alternative, da der öffentliche Bustransport in Brasilia hauptsächlich wegen seiner altersschwachen Flotte und den Verspätungen von sich reden macht. Also bleibt nur das Taxi. Am Taxistand angekommen, fahren die letzten drei Wagen mit eilig eingestiegenen Gästen gerade vor unserer Nase weg. Wir müssen eine Viertel Stunde warten, bis endlich wieder ein Taxi mit grünem Licht auftaucht. Wir haben 30 Kilometer Strecke vor uns und wir wurden bereits gewarnt, dass die Taxis in Brasilia sehr teuer seien. Na bravo. Reginaldo, unser Taxifahrer, scheint noch nie in der von uns angegebenen Gegend gewesen zu sein. Dauernd fragt er uns nach dem Weg. Oder er will uns testen, ob wir Gringos sind und keine Ahnung haben. Wir sitzen noch nicht richtig, fängt er bereits an, über die Regierung und vor allem den ehemaligen Staatspräsidenten Lula zu schimpfen. Unter der Regierung Lulas sei alles schlechter geworden. Die Kriminalität  explodiert, das Gesundheitswesen am Boden, die Korruption blühe wie nie zuvor. Dilma habe nichts zu sagen, da Lula immer noch die Strippen im Hintergrund ziehen würde. Der gute Mann steht mit seiner Meinung  wohl nicht allein da. Das Volk hat genug, hören wir jeden Tag auf der Strasse. Dennoch ist es noch nicht sicher, wie die nächsten Wahlen ausgehen werden. Die Stimmen der ärmeren Familien "kaufte" die PT mit der Bolsa Familia, einer Art Sozialhilfe und jetzt wolle niemand mehr arbeiten, ergänzt Reginaldo. All seinem Frust lässt der Taxista freien Lauf, während er immer langsamer wird. Nachdem wir insistieren, dass er doch etwas flotter fahren könne, fragt er schon wieder, ob er hier abbiegen müsse. Zum Glück kennt Lou den Weg, denn ich habe keinen blassen Schimmer, wie es zu der Adresse unseres Apartments geht. Für mich sehen die Hochhäuser hier alle gleich aus. Endlich kommen wir an. Das Taxometer zeigt  71,60 Reais an. Mit der Metro wären wir für insgesamt 4 Reais zurückgefahren. Dank der falschen Auskunft des Polizisten sind wir jedenfalls um eine Erkenntnis reicher und um 70 Reais ärmer geworden: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Büste von Juscelino Kubitschek an der Praca dos Tres Poderes. Was er wohl zum aktuellen Brasiia sagen würde? (c) Lou Avers
Büste von Juscelino Kubitschek an der Praca dos Tres Poderes. Was er wohl zum aktuellen Brasiia sagen würde? (c) Lou Avers

 

Vom Essen in Brasilia und schönen Nägeln

Immer wenn wir in eine neue Region kommen, versuche ich zuerst herauszufinden, was die Einheimischen denn so essen. Ob es ein Spezialgericht gibt oder irgendwelche Eigenarten, die sonst nirgendwo vorkommen. In Brasilia komme ich mit meiner Neugier nicht sehr weit. Alle Leute, die ich bisher fragte, was man denn hier so auf den Tisch stellt, antworteten sehr vage: "Ach nichts besonderes. Wir essen Fisch, Huhn oder geschmortes Fleisch, Reis, Mandioka...". Kein Churrasco?, will ich wissen. "Nein, diese Tradition kennen wir hier nicht". Klar, die meisten Einwohner Brasiliens sind aus dem Nordosten zugewandert. Oder kommen aus Rio oder Sao Paulo. Und jede Familie hat  ihre eigene Gastronomie. Brasilia ist ja auch erst 53 Jahre alt und ein künstliches Gebilde aus diversen Einwanderern Brasiliens. Also gibt es keine Brasilia-Küche im wörtlichen Sinn, vielmehr ein Gemisch unterschiedlicher Traditionen. Im Vergleich zu Porto Alegre ist das Essen in Brasilia sehr teuer. Ein Buffet kostet hier beispielsweise zwischen 45 und 70 Real, das ist im Vergleich zu den 10-15 Real für ein Buffet Livre in Porto Alegre ziemlich happig. Zum Glück haben wir ja ein Apartment und einen Supermarkt um die Ecke. Es ist auch schön, mal wieder selber zu kochen. Ich bevorzuge doch noch immer einen frischen gemischten Salat mit kaltem Huhn anstatt der fettigen Pommes von Burger & Co. Fastfood wird auch in Brasilien immer beliebter und eine Mikrowelle fehlt heute in keinem Haushalt. Schade, dass die Leute das Kochen verlernen. So werden die Kinder schon von klein an an Fertiggerichte gewöhnt. Dazu kommt, dass spezifisch in Brasilia ausser den Touristen niemand zu Fuss geht. Hier fährt man Auto. Das heisst, sitzen im Büro, sitzen hinter dem Steuer, sitzen vor dem Fernseher zu Hause. Fahrradwege, die man auch wirklich als solche bezeichnen könnte, gibt es kaum. Einzig in den Stadtparks sieht man die Leute am Sonntag morgen joggen oder laufen. Aber das sind wenige Ausnahmen. Was nirgendwo fehlt, sind Schönheitssalons. Es gibt wohl keine brasiliansche Frau, die ohne Maniküre und Pediküre auskommt. Kaum eine Brasilianierin geht mit ungepflegten Finger-oder Fussnägeln aus dem Haus. Allein in unserem Apartmentblock gibt es 6 "Saloes de Beleza". Selbst in den USA sind die Qualitäten der brasilianischen Manikürekünste gefragt. Da ich immer Bedenken wegen der sterilisierten (oder nicht sterilisierten) Nagelhautscheren habe, pflege ich meine Nägel lieber selber. Ehrlichgesagt hätte ich weder Zeit noch Geduld, stundenlang von zwei Damen an sämtlichen Extremitäten gleichzeitig bearbeitet zu werden. Ich stehe immer staunend vor dem Gewimmel an Händen, Füssen, Nagellack und dem ätzenden Geruch des Nagellackentferners. Ich gebe zu, das Ergebnis ist meistens perfekt im Gegensatz zu meiner Selfmademaniküre. Wer schön sein will, muss leiden....

 

 

Die ultramoderne Glasfassade der Procuradoria Geral da Repúbica (Staatsanwaltschaft). Mit 95 Jahren hat Oscar Niemeyer hier seinen Stil verändert  -  (c) Lou Avers
Die ultramoderne Glasfassade der Procuradoria Geral da Repúbica (Staatsanwaltschaft). Mit 95 Jahren hat Oscar Niemeyer hier seinen Stil verändert - (c) Lou Avers

Ein Himmelreich für ein Fahrrad!

Brasilia ist schon deshalb interessant, weil es kaum eine vergleichbare Stadt auf der Welt gibt. In der Geschichte der Architektur ist sie bis heute ein Markstein. Die Stadt wurde in Form eines Kreuzes anelegt, manche sprechen auch von der Form eines Flugzeuges. Die Wohnsiedlungen verteilen sich auf die "Flügel" Asa Sul und Asa Norte. Die Monumenten-Achse bildet den "Rumpf", die wichtigsten politischen Gebäude das "Cockpit". Erstmals in der brasilianischen Stadtplanung legte man breite vierspurige Strassen an. Die Strassennamen Brasilias sind nummeriert und in Quadrate eingeteilt.  Trotz aller Sehenswürdigkeiten habe ich Schwierigkeiten, mich an das Klima zu gewöhnen. Es ist anstrengend in der trockenen heissen Luft und dem regen Autoverkehr hin- und herzulaufen. Die meisten Einheimischen bewegen sich kaum zu Fuss. Was würde ich jezt für ein Fahrrad geben! Meine Füsse sind schon voller Blasen vom vielen Laufen. Leider gibt es keinen Fahrradverleih in der Stadt, obwohl sich doch die flachen Strecken zum Radeln anbieten würden. Ausgewiesene Fahrradwege gibt es auch nicht. Solche Projekte lassen sich in Brasilia nicht so leicht durchsetzen, lasse ich mir erklären. Da die Stadt zum Weltkulturerbe gehört, muss jede Veränderung, die von der ursprünglichen Städteplanung abweicht, erst diverse Genehmigungsverfahren durchlaufen. Und Fahrradfahrer, ebenso wie Fussgänger waren in der neuen Hauptstadt nicht vorgesehen. Ab und an sieht man  dieser Tage ein paar vereinzelte Radfahrer oder Skater. Aber das ist eher die Ausnahme. Brasilia ist eindeutig eine Autostadt. Noch ein Tipp: Ohne Hut bekommt man hier als Fussgänger in den Mittagsstunden schnell einen Sonnenstich. Die UV Strahlung ist sehr intensiv und wer sich nicht ausreichend mit Sonnencreme oder langen Ärmeln schützt, wird es bald bereuen. Ich könnte ständig duschen, so trocken ist die Luft. Eine Wasserflasche sollte man immer dabei haben.  Am Abend kommt dann etwas Abkühlung und die Nächte sind recht frisch. Deshalb empfiehlt es sich, in den Abendstunden stets eine leichte Weste oder einen Pulli mitzunehmen.

Der Nationalkongress ist immer von vielen Fahrzeugen umgeben - (c) Lou Avers
Der Nationalkongress ist immer von vielen Fahrzeugen umgeben - (c) Lou Avers

 

14.08.2013 Koordinationsprobleme

Eigentlich war heute ein Fototermin im neuen WM Stadion vorgesehen. Das Tourismusbüro hat diesen Termin für uns organisiert, denn um eine Besuchserlaubnis und noch dazu eine Veröffentlichungsgenehmigung zu erhalten, heisst es einige bürokratische Schritte zu durchlaufen. Die Prozedur hätte man von den strengen Vorschriften der FIFA üernommen, erklärt uns eine Mitarbeiterin.  Doch (schon zum zweiten Mal) sagt uns Gisele kurzfristig  wegen Programmänderungen im Stadion ab und wir müssen wieder einmal umdisponieren. Der Nachmittag ist damit wieder frei. Also nehmen wir die Angelegenheit selber in die Hand und begeben uns zum Nationalkongress, wo wir ebenso bereits eine Authorisierungsanfrage für externe Aufnahmen in die Wege geleitet haben. Dazu müssen wir uns zunächst am Empfang der Abgeordnetenkammer ausweisen und registrieren, das Ganze mit Portrait- Schnappschuss zur Identifizierung (fehlt nur noch der Fingerabdruck).  Dann gibt es einen Aufkleber mit einer Nummer, den man sich sichtbar auf die Brust klebt, um als Besucher erkennbar zu sein. Zunächst geht es durch eine Sicherheitsschleuse wie am Flughafen.  Im Wirrwarr verwinkelter Gänge, die nur so wimmeln von Abgeordneten, Beamten und Besuchern mit Nummernaufklebern, finden wir das Zimmer des Presse-Assesors. Dieser entscheidet aber nicht selber, sondern muss den "Vorgang" an seinen obersten Sekretär weiterleiten. Jener wiederum gibt sein OK erst nach Sichtung der beruflichen Qualifikation und Nachweis des Mediums. Das ganze kostet uns mehr als eine Stunde. Die Sonne steht schon tief und der Fotograf wird langsam nervös, weil dies die kostbarsten Minuten für gute Abendaufnahmen sind. Endlich ist die Erlaubnis fertig. Wir bekommen aber keine Kopie oder schriftliche Genehmigung ausgehändigt. Auf die Frage, wie wir uns denn nun als "autorizados" ausweisen sollen, meint die für die Sicherheit verantwortliche Dame: " Sagen Sie einfach, Valéria weiss Bescheid". Kaum stehen wir unten auf der Rasenfläche vor dem Kongressgebäude, kommt schon der erste Polizist und informiert uns, dass man hier nicht fotografieren dürfe. Brav lassen wir unseren eingetrichterten Spruch "Valéria weiss Bescheid" ablaufen und oh Wunder - es wirkt! Sofort lässt uns der Beamte durch und wir dürfen ungestört aus allen Winkeln fotografieren. Der junge Polizeibeamte erweist sich als ausserordentlich hilfsbereit und sympathisch. Er sei gerade am Deutsch lernen, da er gerne einmal Deutschland besuchen würde. Er steht heute dienstbereit, weil am Vormittag wieder eine Grossdemonstration mit über 3000 Manifestanten stattfand. Die Staats-, Militär- und Zivilpolizei arbeiten für solche Zwecke zusammen und müssen den Kongress vor Übergriffen schützen. Heute blieb alles friedlich und die letzten Demonstranten fahren am Abend mit Bussen zurück. Die Manifestationen sind für die Polizisten keine einfache Situation. Sie müssen versuchen, die hochemotionalen Stimmungen zu schlichten und die ganz Aggressiven zu beruhigen. Das klappt nicht immer, meint der Diensthabende. Es gab auch schon Chaosmomente mit  Molotow-Cocktails und vielen Verletzten. Sobald er in Rente gehen darf, und das sei mit 55 Jahren, fügt er noch hinzu, wolle er im Ausland leben. Die Kriminalität in Brasilien sei sein Hauptproblem und er sehe keine gute Perspektive für sein Land. Für die WM und Olympia hätte er grosse Sicherheitsbedenken. Seinen Namen lasse ich aus verständlichen Gründen weg. Doch das Gespräch zeigt, dass auch in den Reihen der Polizei viele Sympathien mit den Protestierenden bestehen. Die Gesellschaft ist unzufrieden und der Auslöser für das überlaufende Fass waren die Milliardenausgaben für die WM, die an anderen Stellen wie beispielsweise dem Gesundheitssystem fehlen.

 

Doch noch WM Stadion...

Nach vielen bürokratischen Wirren bekommen wir doch noch durch das Beharren Giseles am vorletzten Tag einen Fototermin für Brasilias WM Stadion Mané Garrincha. Das Stadion trägt den Namen des berühmten Rechtsaussen Manuel Garrincha, einer der Stars aus Pelés Dreamteam. Die goldende Selecao holte 1958 erstmals den Weltmeisterschaftstitel nach Brasilien. Das Stadion ist bereits fertiggestellt, es fehlt nur noch die Infrastruktur ringsum und die Urbanisation. Fast jedes Wochenende finden hier schon Spiele statt. Bianca, eine Dame mittleren Alters empfängt uns und begleitet uns durch die Baustellenbereiche bis zum Stadion. 71.000 Plätze bietet dieser moderne Fussballtempel. Die Tribünen sind mit roten Klapp-Sitzen bestückt und das Dach lässt sich komplett schliessen. Ich gestehe, dass ich keinerlei Ahnung von Fussball habe, doch das imposante Stadion beeindruckt auch mich. Man kann sich richtig vorstellen, wie die Sitze mit jubelnden Fans vibrieren und das Fussballfieber kocht. Leider haben wir am gleichen Tag und auch noch zur gleichen Zeit einen anderen Termin, der sich nicht verlegen liess (!). Deswegen haben wir es etwas eilig und müssen die Fotos im Schnelldurchlauf durchziehen. Doch unsere Eile hilft uns nicht viel. Unsere Begleiterin scheint das erste Mal im Stadion zu sein, denn sie verläuft sich permanent und hat plötzlich keinen Schimmer mehr, wo sich der Ausgang befindet. Wir steigen Notausgangstreppen auf und ab, fahren Rolltreppen und Fahrstühle hoch und runter, landen im VIP Bereich und plötzlich in der Garage... So geht das 20 kostbare Minuten lang und wir werden langsam nervös. Genervt fragen wir uns selber zum Ausgang 24 durch, wo unser Fahrer schon mit laufendem Motor wartet. Lieber Himmel, jetzt heisst es, wie in einem amerikanischen Film durch die Strassen flitzen bis zu unserem anderen Fototermin, dem Palacio da Alvorada. Dort wohnt die Staatspräsidentin Dilma und wir haben nur eine begrenzte Fotoerlaubnis von einer Stunde. Zum Glück ist noch Zeit und wir können die Aussenaufnahmen ohne Hetze realisieren. Der Palast sieht sehr modern aus, dabei entstand er bereits 1958. Auch ein Werk Oscar Niemeyers, der hier wieder einmal die Zeitlosigkeit seiner Architektur beweist. Die weissen Marmorbögen vor den grünetönten Glaswänden strahlen wie Elfenbein im Sonnenlicht. Ringsum glitzert das Wasser des Stausees Paranoá, der sich in Lago Sul und Lago Norte unterteilt. Ein für Brasilia plötzlich ganz ungewohntes Grün und üppige Vegetation umgibt den Palast. Hyazinth-Aras und Papagaien hört man aus den Baumwipfeln kreischen und Emus laufen frei auf der Rasenfläche herum. Die bekam einst Präsident Kubitschek zum Geschenk und heute grasen deren Nachfahren auf dem Gelände. Recht hübsch wohnt Dilma Rousseff hier mit ihrer Mutter und Tante. Ob sie uns wohl aus ihrem Wohnzimmer beobachtet, wie wir die Fassade ablichten? Kann gut sein, meint Filipe, unser Sicherheitsbegleiter. Juscelino Kubitschek war übrigens der erste Staatspräsident, der den Palacio da Alvorada bewohnte.

 

Der Präsidentenwohnsitz Palacio da Alvorada - (c) Lou Avers
Der Präsidentenwohnsitz Palacio da Alvorada - (c) Lou Avers

Juscelino Kubitschek de Oliveira - der moderne Visionär und die Goldene Ära Brasiliens

Juscelino Kubitschek im Himmel Brasilias vor dem Memorial JK   - (c) Lou Avers
Juscelino Kubitschek im Himmel Brasilias vor dem Memorial JK - (c) Lou Avers

In Brasilia begegnet man dem Namen Juscelino Kubitschek oder dem brasilianischen Kürzel JK überall. Kubitschek, mütterlicherseits ein Nachfahre eines tschechischen Roma und väterlicherseits eines portugiesischen Vorfahren, war zwischen 1956 bis 1961 der Staatspräsident Brasiliens. Er wurde berühmt durch seinen Wirtschaftsplan " 50 Jahre in Fünf", der Schwerpunkte auf die Bereiche Energie, Transport, Industrie und Basis sowie Bildung setzte. Das Hauptziel des Planes war jedoch die Errichtung Brasilias, sein grösstes und ehrgeizigstes Projekt. Mit einer Hauptstadt im menschenleeren Zentrum Brasiliens sollte das Landesinnere wirtschaftlich aufgebaut werden. Bisher konzentrierte sich alles auf die Küstenregionen.  Juscelino Kubitschek war eigentlich Mediziner, doch machte er recht schnell politische Karriere in seiner Heimatstadt Belo Horizonte in Minas Gerais. Er gilt als einer der besten und beliebtesten Staatspräsidenten Brasiliens und steht für eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, kultureller Blüte und optimistischem Blick in die Zukunft - kurz die Zeit der goldenen Jahre Brasiliens. Es waren die Anfänge der Automobilindustrie, der Ölraffinerien, des ersten Weltcuptitels, des Bossa Nova... Kubitschek förderte Kunst und Kultur, moderne Architektur und propagierte den Fortschritt. Er erkannte das kreative Potential des Power-Duos und engagierte Oscar Niemeyer und Lucio Costa für die Städteplanung und den Bau seines Zukunftsprojekts Brasilia. Seine Regierungszeit war geprägt von demokratischen Werten und politisch diplomatischem Geschick. Es gab und gibt auch Kritker seiner Regierungszeit, unter anderem wegen der Vernachlässigung des Schienenverkehrs und des Eisenbahnnetzes. Kubitschek starb 1976 in einem bis heute ungeklärten Autounfall. Nicht wenige Brasilianier glauben an ein Attentat.

Seine sterblichen Überreste ruhen im 1981 errichteten Memorial JK. Seine Witwe, Dona Sarah, machte es sich nach dem Tod ihres Mannes zur Lebensaufgabe, sein Erbe zu verewigen und suchte nach Sponsoren für ein Kubitschek-Memorial.  Dort kann man heute seine original aus Rio de Janeiro überführte 3000 Volumen umfassende Bibliothek ebenso besichtigen wie persönliche Gegenstände, Geschenke von Staatsträgern oder die elegante Garderobe seiner Gemahlin Sarah. Eine Spezialausstellung zeigt den Präsidenten mit Berühmtheiten des 20. Jahrhunderts. Auf Bildern ist Kubitschek neben Marlon Brando, JF Kennedy, Fidel Castro oder Louis Armstrong zu sehen. Draussen ragt seine Statue mit zum Gruss ausgebreitetem Arm  in den Himmel. Auf einer Parkbank davor knipsen Touristen neben dem romantisch Händchen haltenden Präsidentenpaar Sarah und Juscelino Kubitschek  ihre Urlaubserinnerungen.

 

Bild vom Bild: Juscelino Kubitschek mit Marlon Brando, Ausstellung im Memorial JK - (c) Lou Avers
Bild vom Bild: Juscelino Kubitschek mit Marlon Brando, Ausstellung im Memorial JK - (c) Lou Avers

Abschied von Brasilia

Unseren lezten Tag in der brasilianischen Hauptstadt widmen wir dem Platz der Drei Staatsgewalten. Dort befindet sich auch das Nationale Pantheon Tancredo Neves, die Flaggenpyramide mit einer riesigen 286 m² grossen Nationalfahne und das Monument "Os Candangos" von Bruno Giorgi. Dieses zeigt zwei Metallfiguren, die sich umarmen. Es soll eine Widmung  an die Bauarbeiter sein, die meist aus dem Nordosten kamen und die Brasilia Stein für Stein mitten in die menschenleere Einöde bauten. Die Statue ist eines der bekanntesten Symbole Brasilias.  Die trockene Hitze macht mir auch heute wieder zu schaffen, und es fällt mir hier besonders schwer, den Fotorucksack zu schleppen. Gegen Nachmittag fahren wir mit der Metro zurück nach Aguas Claras und als wir aus der Station treten, trauen  wir unseren Augen nicht: Es regnet!  Das grenzt nach diesen letzten Tagen schon fast an ein Wunder. Eine wahre Wohltat so ein Regenguss. Der glitzernde Regenbogen kurz darauf versöhnt mich wieder mit Brasilias Klima, mit dem ich mich nicht so recht anfreunden konnte. Die drei Stadthelden Juscelino Kubitschek, Oscar Niemeyer und Lucio Costa haben die Stadt jedoch besuchenswert gemacht.

Wir verabschieden uns mit Lucio Costas Worten: "Der Himmel ist das Meer Brasilias".

Morgen geht es von Brasiliens Zukunftsmodell zur kolonialen Vergangenheit. Dort wo die ersten Portugiesen landeten und alles begann - auf nach Bahia.